Die Auseinandersetzung mit der Globalisierung, Digitalisierung, Agilität und Transformation lässt drei wichtige Tendenzen erkennen. Erstens sollen alle Vorschläge die Veränderungbereitschaft und -fähigkeit von Unternehmen deutlich steigern. Unter den Stichworten Agilität und Transformation werden zahlreiche Modelle diskutiert, die die Unternehmen erfolgreich in eine zunehmend dynamischere Zukunft führen sollen. Zweitens wird im Zusammenhang mit der notwendigen Neuausrichtung von Unternehmen fast ausnahmslos von weniger Hierarchie gesprochen. Die neuen Stichworte heißen Teamstrukturen und vernetztes Arbeiten. Drittens wird die Gerechtigkeit als wesentliches Attribut einer neuen Führung hervor gehoben. Untersuchungen belegen, dass Fairness der wichtigste Faktor ist, um Mitarbeiter zu gewinnen und vor allen Dingen auch zu halten.
Fairness als Gebot der Stunde
Fairness oder Gerechtigkeit ist also ein Gebot der Stunde. Nicht selten wird dann auch über die Hierarchie als ebenso veraltetes wie ungerechtes Organisationsprinzip geurteilt. Es ist keine Frage, dass die meisten Autoren und Berater die klassische hierarchische Organisation als ungerecht brandmarken. Die neuen hierarchielosen Organisationsformen sollen also der Fairness dienen und veraltete Ungerechtigkeiten überwinden. In der Folge kommt es zu einem neuen Verständnis von Führung. Vielen Protagonisten der neuen Führung scheint eine echte und starke Führung wohl immer weniger notwendig. Die neue Generation der Mitarbeiter bringt eine hohe Motivation mit und dieser starke Antrieb soll nicht durch eine starke oder gar hierarchische Führung verloren gehen.
Führung bedeutet eine Position einzunehmen, in der man die Werte und Handlungen von anderen beeinflußt. Damit stellt sich die Frage, ob es gerecht sein kann, andere Menschen zu beeinflussen. Welcher Aspekt der Gerechtigkeit kann es rechtfertigen, über anderen zu stehen und wichtige Entscheidungen nicht nur mit anderen, sondern auch über andere zu fällen?
Natürliche und normative Gerechtigkeit
Die Frage nach der Gerechtigkeit von Führung ist uralt und sie wird in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich beantwortet. Schon die philosophische Strömung der sogenannten Sophisten hatte ca. 450 Jahre vor Christus die Frage nach der Gerechtigkeit von Führung aufgebracht. In dem Sie die Legitimation der Götter auf dem Olymp in Frage gestellt haben, wurde auch die Macht der Könige auf Erden nicht mehr als uneingeschränkt akzeptiert. Erst durch diese kühne These wurde das Problem der Führung überhaupt thematisiert. Ohne göttlichen Beistand muss die Führung ein Verhalten an den Tag legen, das seine Rolle und Machtbefugnisse rechtfertigt.
In der theoretischen Auseinandersetzung mit der Frage haben die Sophisten ein natürliche Recht des Stärkeren erkannt und daraus eine Rechtfertigung für Führung abgeleitet. Weitere vertiefte Überlegungen haben sie dahin geführt, dass es neben der naturgegebenen Gerechtigkeit auch eine normative Gerechtigkeit gibt. Diese basiert auf einer starken Übereinkunft der Gesellschaft und wird von der Führung bzw. dem Gesetzgeber in Gesetzen niedergelegt. In Unternehmen sind es die anerkannten Strukturen und Verhaltensweisen.
Natürliche Gerechtigkeit in Teams
Auch in unserer Zeit gibt es Formen der natürlichen Gerechtigkeit. Es ist doch unstrittig, dass sich in jeder Gruppe von Menschen automatisch eine bestimmte Ordnung einstellt. Es entspricht nicht der Natur, dass eine Menge von Menschen ohne jede Ordnung besteht. Immer bilden sich in Ansammlungen von Leuten Fraktionen mit verschiedenen Werten und Einstellungen. Das ist zunächst einmal eine horizontale Ordnung. Aber auch ein Führer wird sich schnell heraus bilden. Am Ende wird sich immer auch eine hierarchische Ordnung einstellen.
Insofern ist die Forderung der Modernisierer auf jegliche Führung in Teams zu verzichten unnatürlich. Sie ist auch keine besonders tolle Form der Fairness, denn sie negiert einfach was nicht sein, darf. Eine natürliche Ordnung und die damit verbundene natürliche Gerechtigkeit. Die Frage ist vielmehr, wie man die Rolle des Führers in einem Team definiert. Soll er die Gruppe eher kontrollieren, oder ist er eher ein aktiver Mitstreiter, der durch seine fachlichen und persönlichen Fähigkeiten die Leute hinter sich und den gemeinsamen Ideen vereint? Die moderne Interpretation von Führung in Teams steht sicher für die zweite Option.
Die gerechte Ordnung
Die aktuellen Ausführungen zu Transformation, Agilität, New Work sollen dem Ideal der hierarchielosen Führung Vorschub leisten. Die ebenso einfache wie falsche These lautet: Hierarchie ist ungerecht. Diese Bewertung ist weder philosophisch noch faktisch haltbar. Die Autoren sehen eine besonderer Gerechtigkeit in einer unnatürlichen „Gleichmacherei“. Sie ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, bei der der Aspekt der Gleichheit stark betont wird.
Eine deutliche Ablehnung von Hierarchie ist wohl angebracht, wenn die Über- und Unterordnung auf den falschen Kriterien basiert. Niemand würde heute z.B. aristokratische Modele, bei denen die Führungsrolle durch Geburt bestimmt wird, als gerecht empfinden. Doch es besteht die Möglichkeit, Gerechtigkeit durch Übereinkunft zu schaffen. Sind die die Menschen einig, dass bestimmte Führungspositionen benötigt werden, dann ist dieser Konsens ein Ausdruck von Gerechtigkeit. Insofern ist wohl auch bei den Befürwortern von Agilität und New Work weniger die Tatsache einer hierarchischen Position das Problem, sondern eher die Rolle die dort wahrgenommen wird. Wenn eine hierarchische Stufe durch anerkannte Tugenden erreicht wird und die Führungskraft die Rolle gut ausfüllt, dann ist auch die Führung gerecht. Daran besteht seit jeher kein Zweifel.
Auch moderne Organisation benötigen Führung
Für die moderne Führungskraft darf kein Zweifel daran bestehen, dass das Führen von Mitarbeitern nicht grundsätzlich ungerecht ist. Es handelt sich vielmehr um eine natürliche Erwartung von Gemeinschaften von Menschen.
Man kann sogar die These aufstellen, dass fehlende Führung eine Ungerechtigkeit ist. Die Mitarbeiter erwarten, dass hierarchisch höher gestellte Personen Ihre Rolle ausfüllen und dem Unternehmen, dem Bereich oder dem Team ein Richtung geben. Fehlt es an einer klaren Orientierung, wird Führung nicht erkannt. Hat jemand eine übergeordnete Position inne, ohne dass er auch führt, ist das ungerecht. Deshalb benötigen wir, auch wenn wir eine Dezentralisierung von Verantwortung anstreben und ausgeprägte Teamstrukturen fördern, eine echte und starke Führung.
Allerdings kann jede Führungskraft durch falsches Verhalten die gerechte Position zu einem sehr ungerechten Miteinander werden lassen. Aus philosophischer Sicht ist ein klarer Anspruch von Gerechtigkeit an einen selbst hervor zu heben. Es ist eine gerechte Forderung der Mitarbeiter, dass sie eine gerechte Führung wollen. Aber sie wollen eben auch geführt werden. Sie wollen in einem Unternehmen gemeinsam Werte erkennen und diese auch befolgen. Für die Führung gilt: Nicht die Hierarchie an sich ist ungerecht, sondern nur eine falsche Interpretation der Rolle.